«Die reine Volksherrschaft»: Wie die Landsgemeinde die Totalrevision der Zürcher Kantonsverfassung 1869 inspirierte

Vor 150 Jahren legte der Kanton Zürich die Grundlage für den Durchbruch der direkten Demokratie in der Schweiz. Die Urheber der neuen Verfassung schielten dabei nach Glarus.

Vor 150 Jahren nahmen die Zürcher Stimmberechtigten eine neue Verfassung an. Die Revision war ein Meilenstein für die Entwicklung der (direkten) Demokratie im Kanton und in der Schweiz. Mit der Verfassung, welche die Stimmberechtigten am 18. April 1869 mit 61 Prozent Zustimmung annahmen, führte Zürich die Volksinitiative für Verfassungs- und Gesetzesänderungen, das Gesetzes- und Finanzreferendum ebenso wie die Volkswahl von Regierungs- und Ständeräten ein. Die Geschichte der Revision ist auch ein Beispiel dafür, wie die Landsgemeinde immer wieder Bewegungen für mehr direkte Demokratie in anderen Kantonen inspirierte.[1]

Hinter der Revision stand massgeblich die demokratische Bewegung. Diese entstand in den 1860er Jahren in Opposition zu den Liberalen unter Alfred Escher, welche seit 1830 fast ununterbrochen die Macht im Kanton innehatten. Das liberale «System», wie die Gegner es nannten, basierte auf der repräsentativen Demokratie. Die Wähler konnten sich nur alle vier Jahre äussern und ihre Repräsentanten im Parlament wählen, anschliessend entschieden diese darüber, was das Beste für das Volk sei.

«Alles durch das Volk, alles für das Volk»

Die Demokraten stellten dem eine radikal andere Konzeption der Demokratie gegenüber: «Alles durch das Volk, alles für das Volk», lautete ihre Devise.

Als die bis dahin boomende Zürcher Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1860er Jahren in eine Krise geriet und der Unmut in der Bevölkerung über die Klüngelei und Vetternwirtschaft des «Systems» zunahm, sahen die Demokraten ihre Chance gekommen. Im Herbst 1867 lancierten sie eine Initiative auf Totalrevision der Kantonsverfassung. Um die nötigen 10’000 Unterschriften zusammenzubringen, riefen sie für den 15. Dezember 1867 zu Grossdemonstrationen in vier Gemeinden auf: in Uster, Winterthur, Bülach und Zürich. Diese Demonstrationen nannten sie «Landsgemeinden».

Woher rührte diese Bezeichnung? An den Versammlungen fanden keine Abstimmungen statt, schon gar keine formelle. Auch hatten die Demokraten nicht vor, eine Landsgemeinde im Kanton Zürich einzuführen.[2]

Die Landsgemeinde diente vor allem als Inspirationsquelle, als Ideal der Volksherrschaft, welche die Demokraten anstrebten. So wie die Versammlungsdemokratie bereits den aufständischen Bauern im Emmental und Entlebuch im 17. Jahrhundert oder der Regenerationsbewegungen in verschiedenen Kantonen (unter anderem in Zürich) in den 1830er Jahren zur Inspiration gedient hatte.

Import mit Einschränkungen

In einem Punkt hatte die Landsgemeinde aber für die Totalrevision ganz konkrete Vorbildfunktion: Der Verfassungsrat schrieb nämlich neben der Volksinitiative, mit der 5000 Bürger eine Verfassungs- oder Gesetzesänderung zur Abstimmung bringen konnten, auch das Instrument der Einzelinitiative in die Verfassung. Diese war ein Direktimport aus dem Kanton Glarus. Dort kann bekanntlich ein einziger Bürger einen Vorschlag (Memorialsantrag) zuhanden des gesamten Stimmvolkes stellen.

In Zürich wurde das Instrument freilich nicht ganz so weitgehend ausgestaltet. Es wäre auch kaum praktikabel gewesen, angesichts der Grösse des Kantons und der Tatsache, dass über die Vorschläge nicht an einer Landsgemeinde werden konnte, sondern dass Urnenabstimmungen dafür durchgeführt werden mussten.

Die Zürcher Verfassungsväter schrieben deshalb die Bedingung in die Verfassung, dass eine Einzelinitiative (im Gegensatz zur Volksinitiative) nur dann vors Volk kommen sollte, wenn mindestens ein Drittel des Kantonsrats ihr zustimmt. Der Urheber des Vorschlags, Johann Caspar Sieber, hatte zu dieser Einschränkung Hand geboten, da der Verfassungsrat das Instrument der Einzelinitiative sonst wohl abgelehnt hätte.

Damit wurde der Glarner Memorialsantrag in eine für den Kanton Zürich realistische Form gebracht. Zugleich wurde mit der Einschränkung natürlich auch die Schlagkraft der Einzelinitiative reduziert. Es verwundert denn auch nicht, dass das Instrument eher ein Mauerblümchendasein fristet. 13 mal kam gemäss der Datenbank des Kantons eine Einzelinitiative zur Abstimmung (unter anderem jene eines gewissen Mario Fehr, der 1989 die Ergreifung einer Standesinitiative betreffend autofreie Sonntage forderte). Zum Vergleich: Seit 1869 stimmten die Zürcher über 174 Volksinitiativen ab. Da die Unterschriftenhürde für Volksinitiativen im Kanton Zürich relativ tief ist, ist es kaum mit mehr Aufwand verbunden, 6000 Unterschriften zu sammeln, als 60 Parlamentarier von einem Vorschlag zu überzeugen.

Mit der Totalrevision von 2005 wurden dem Instrument weitere Zähne gezogen: Seither müssen Einzelinitiativen in einem ersten Schritt die vorläufige Unterstützung von 60 Kantonsräten erlangen, anschliessend verfasst der Regierungsrat einen Antrag und Bericht dazu, schliesslich muss die Initiative eine Mehrheit des Parlaments hinter sich vereinen.

«Ehrwürdig, aber schwerfällig»

Nachdem am 18. April 1869 die neue Verfassung angenommen worden war, schrieb der Winterthurer «Landbote», das Hausblatt der Demokraten, begeistert, das Werk sei der «erste konsequente Versuch, die Idee der reinen Volksherrschaft in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form durchzuführen und die ehrwürdige aber schwerfällige und nur für kleine Verhältnisse geeignete Landsgemeinde durch eine Einrichtung zu ersetzen, deren Eckstein die Abstimmung durch die Urne in den Gemeinden ist.»[3]

Für die Demokraten war die Landsgemeinde zu schwerfällig, um im Kanton Zürich umgesetzt zu werden, aber immerhin ehrwürdig genug, um ihnen als Vorbild zu dienen. Die Institution hatte sowohl auf ideeller als auch auf praktischer Ebene Einfluss auf die Zürcher Verfassungsrevision und damit auf die Entwicklung der (direkten) Demokratie in der Schweiz.


[1] Siehe auch: Lukas Leuzinger (2018): Ds Wort isch frii. Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart und Zukunft, S. 35-36.

[2] Im Gegenteil: Mit der neuen Verfassung wurden die Wahlen an Kreisversammlungen durch Urnenwahlen (und -abstimmungen) ersetzt.

[3] «Der Landbote», 20. April 1869, zitiert nach Andreas Gross: Die unvollendete Direkte Demokratie. 1984-2015: Texte zur Schweiz und darüber hinaus, S. 37.

Advertisement