Politik korrumpiere uns, findet der US-amerikanische Philosoph Jason Brennan und will daher nur noch Auserwählten ein Stimmrecht zugestehen. Doch ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert.
«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben.» Mit diesen Worten argumentierte der damalige Glarner Regierungsrat Hans Meier 1970 im Parlament gegen die Wahl der Regierung an der Urne, die ein Memorialsantrag der Freisinnigen forderte. Meier wollte damit sagen, dass die Wahl an der Urne für viele Wähler zu komplex sei, und man daher bei dem (vermeintlich einfacheren) Verfahren der Wahl an der Landsgemeinde bleiben sollte. Es ging ihm nicht darum, die Demokratie generell in Frage zu stellen (immerhin hatten die «dummen Wähler» ihn ja zum Regierungsrat gewählt).
Herrschaft der Wissenden

«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben», erklärte Regierungsrat Hans Meier laut Landratsprotokoll. Doch soll man die «dummen Wähler» von der Politik fernhalten?
Trotzdem musste ich an das Argument Meiers denken, als ich kürzlich das Buch «Against Democracy» des US-amerikanischen politischen Philosophen Jason Brennan las, das jüngst auf Deutsch erschienen ist.[1] Brennan argumentiert, den meisten Wählern fehle an grundlegendstem Wissen, um kompetente politische Entscheidungen zu treffen, und das wenige, was sie wüssten, interpretierten sie in verzerrter Weise. Er zitiert zahlreiche Studien (interessanterweise fast ausschliesslich aus den USA), um seine These zu unterlegen. Als «Lösung» schlägt er vor, die Demokratie durch eine «Epistokratie» zu ersetzen, in der nur jene das Stimmrecht erhalten, die kompetent genug bestehen.
Bei der Frage, wie man die kompetentesten Bürger auswählen soll, und überhaupt bei der praktischen Umsetzung der Idee bleibt das Buch ziemlich vage. Das soll hier jedoch nicht das Thema sein. Denn Brennan geht noch weiter: Er sagt nicht nur, dass die meisten Leute nicht die nötige Kompetenz hätten, um sich an der Politik zu beteiligen, sondern dass das auch gar nicht gut sei für sie: Politik korrumpiere die Menschen, mache aus umgänglichen Zeitgenossen politische «Hooligans», die Leute mit anderen Meinungen verachteten und beleidigten. Brennan will den Menschen diesen Stress ersparen und sie von der Politik fernhalten.
Ich erinnerte mich an Brennans These, als ich kürzlich die Landsgemeinde in Glarus verfolgte. Während ich den Reden der Teilnehmer lauschte, fragte ich mich: Werden die Leute, die an die Landsgemeinde gehen, dadurch zu schlechteren Menschen? Es stimmt, dass die Diskussionen im Ring zuweilen hitzig und emotional sind. Trotzdem begegnen sich die Stimmberechtigten im Allgemeinen doch mit Respekt. Obschon sie unmittelbar nebeneinander stehen, erlebt man es kaum je oder nie, dass einer den anderen beschimpft oder es gar zu Handgreiflichkeiten kommt (was man erwarten würde, wenn man Brennan’s Buch liest). Ausfälligkeiten der Redner auf dem Ring sind ebenfalls selten, und wenn sie vorkommen, werden Betreffenden nicht nur vom Landammann zurechtgewiesen, sondern auch von den Stimmberechtigten bestraft. Wer Argumente mit Beleidigungen verwechselt, tut seinem Anliegen in der folgenden Abstimmung keinen Gefallen.
Politik ist nicht Wasserskifahren
Zweifellos führt Politik oft zu aufgeheizten Diskussionen zwischen Leuten, die unterschiedliche Meinungen vertreten. Aber wer, wie Brennan, glaubt, dass man solche Animostitäten abschalten könnte, indem man einen Teil der Bürger aus der Politik raushält, macht einen Denkfehler. Politik ist nicht ein Hobby wie Wasserskifahren, mit dem man sich einige Stunden beschäftigt, um danach wieder zum Alltag zurückzukehren. Denn Politik betrifft unseren Alltag direkt. In der Politik geht es darum zu entscheiden, wie wir unser Zusammenleben als Gesellschaft gestalten. Es gibt keine Aktivität in unsere Leben, die nicht von Politik beeinflusst wäre. Deshalb wäre es töricht zu glauben, die Leute würden sich von der Politik fernhalten, wenn man sie von der formellen politischen Mitbestimmung ausschliesst. Das ist, als würde man annehmen, dass die Leute sich nicht mit dem Wetter befassen, weil sie dieses nicht beeinflussen können. Menschen haben sich wegen politischen Fragen die Köpfe eingeschlagen, als die meisten von ihnen noch keinerlei politische Rechte hatten.
An der Landsgemeinde stehen sich politische Gegner Auge in Auge gegenüber. Man diskutiert, versucht den anderen zu überzeugen, und stimmt am Ende ab. Dadurch, dass man gezwungen ist, sich auch die Argumente des Gegners anzuhören, ist es nicht so leicht, allein aufgrund von Vorurteilen einen Entscheid zu fällen. «Citizens who see one another at a meeting realize that their opponents are human», schrieb die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Mansbridge.[2] Oder wie es sich langjährige Glarner Landammann und spätere Bundesrat Joachim Heer ausdrückte: «[Es ist] ein gar gutes Ding, wenn wenigstens jedes Jahr einmal die verschiedenen Elemente des Volkes sich persönlich einander gegenüberstehen und ins Auge blicken; die Menschen rücken erst dann recht weit auseinander, wenn sie sich nicht mehr sehen und sprechen und jeder vom anderen nur noch vom Hörensagen oder vorgefassten Ideen urteilen kann.»[3]
Debatte statt Schlägerei
Ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert. Sie betrifft uns alle, und wir alle haben Meinungen zu politischen Entscheiden, ob wir uns daran beteiligen oder nicht. Die Wahl ist nicht, ob wir uns damit beschäftigen oder nicht, sondern nur, wie wir uns damit beschäftigen. Natürlich sind die Bürger in Glarus oder Appenzell nicht bessere Menschen, weil sie an der Landsgemeinde teilnehmen. Ebenso sind die Debatten nicht immer hochstehend und vernünftig. Doch hat man, wenn man die Versammlung verfolgt, nicht das Gefühl, die politische Diskussion würde Bürger radikalisieren und die Konflikte zwischen ihnen anheizen. Im Gegenteil wirkt es eher so, dass nach den zuweilen hitzigen Debatten der «Dampf» wieder für eine Weile abgelassen ist. Und wann er an einer demokratischen Versammlung abgehalten wird anstatt in einer Schlägerei oder einem Bürgerkrieg – umso besser.
Es soll hier nicht darum gehen, die Landsgemeinde zu idealisieren. Der Punkt ist vielmehr, dass Politik und demokratische Diskussionen uns nicht – oder zumindest nicht immer – in politische «Hooligans» verwandelt, wie dies Brennan anzunehmen scheint. Vielleicht spielt auch die politische Kultur eine Rolle. Wie wir wissen, sind keinesfalls alle demokratischen Versammlungen friedlich verlaufen. Ein gewisses Mass an Toleranz, Respekt und Kompromissbereitschaft scheint also Voraussetzung zu sein, damit politische Diskussionen fruchtbar sind. Vielleicht liegt hier eher das Problem der Politik (insbesondere in den USA, auf die sich Brennan vor allem bezieht) – und nicht bei der Politik an sich.
[1] Jason Brennan (2017): Gegen Demokratie.
[2] Jane Mansbridge (1980): Beyond Adversary Democracy, S. 74.
[3] Brief an Ratsherr Sarasin, 4. Januar 1860, zitiert in: Hans Lehnherr (1983): Der Einfluss des Kantons Glarus auf das Schweizerische Arbeitsrecht, Dissertation Universität Bern, S. 32.