Tagung «Der Kanton Glarus als Förderer der direkten Demokratie» am 3. Oktober

Am 3. Oktober findet in Elm eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema «Der Kanton Glarus als Förderer der direkten Demokratie» statt. Im Rahmen der Veranstaltung werde ich einen Vortrag über Vor- und Nachteile der Landsgemeinde aus demokratietheoretischer Perspektive halten.

Das vollständige Programm findet sich auf der Website des Forschungsinstituts direkte Demokratie. Anmelden kann man sich hier.

Ich freue mich auf interessierte Teilnehmer und spannende Diskussionen.

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«Die reine Volksherrschaft»: Wie die Landsgemeinde die Totalrevision der Zürcher Kantonsverfassung 1869 inspirierte

Vor 150 Jahren legte der Kanton Zürich die Grundlage für den Durchbruch der direkten Demokratie in der Schweiz. Die Urheber der neuen Verfassung schielten dabei nach Glarus.

Vor 150 Jahren nahmen die Zürcher Stimmberechtigten eine neue Verfassung an. Die Revision war ein Meilenstein für die Entwicklung der (direkten) Demokratie im Kanton und in der Schweiz. Mit der Verfassung, welche die Stimmberechtigten am 18. April 1869 mit 61 Prozent Zustimmung annahmen, führte Zürich die Volksinitiative für Verfassungs- und Gesetzesänderungen, das Gesetzes- und Finanzreferendum ebenso wie die Volkswahl von Regierungs- und Ständeräten ein. Die Geschichte der Revision ist auch ein Beispiel dafür, wie die Landsgemeinde immer wieder Bewegungen für mehr direkte Demokratie in anderen Kantonen inspirierte.[1]

Hinter der Revision stand massgeblich die demokratische Bewegung. Diese entstand in den 1860er Jahren in Opposition zu den Liberalen unter Alfred Escher, welche seit 1830 fast ununterbrochen die Macht im Kanton innehatten. Das liberale «System», wie die Gegner es nannten, basierte auf der repräsentativen Demokratie. Die Wähler konnten sich nur alle vier Jahre äussern und ihre Repräsentanten im Parlament wählen, anschliessend entschieden diese darüber, was das Beste für das Volk sei.

«Alles durch das Volk, alles für das Volk»

Die Demokraten stellten dem eine radikal andere Konzeption der Demokratie gegenüber: «Alles durch das Volk, alles für das Volk», lautete ihre Devise.

Als die bis dahin boomende Zürcher Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1860er Jahren in eine Krise geriet und der Unmut in der Bevölkerung über die Klüngelei und Vetternwirtschaft des «Systems» zunahm, sahen die Demokraten ihre Chance gekommen. Im Herbst 1867 lancierten sie eine Initiative auf Totalrevision der Kantonsverfassung. Um die nötigen 10’000 Unterschriften zusammenzubringen, riefen sie für den 15. Dezember 1867 zu Grossdemonstrationen in vier Gemeinden auf: in Uster, Winterthur, Bülach und Zürich. Diese Demonstrationen nannten sie «Landsgemeinden».

Woher rührte diese Bezeichnung? An den Versammlungen fanden keine Abstimmungen statt, schon gar keine formelle. Auch hatten die Demokraten nicht vor, eine Landsgemeinde im Kanton Zürich einzuführen.[2]

Die Landsgemeinde diente vor allem als Inspirationsquelle, als Ideal der Volksherrschaft, welche die Demokraten anstrebten. So wie die Versammlungsdemokratie bereits den aufständischen Bauern im Emmental und Entlebuch im 17. Jahrhundert oder der Regenerationsbewegungen in verschiedenen Kantonen (unter anderem in Zürich) in den 1830er Jahren zur Inspiration gedient hatte.

Import mit Einschränkungen

In einem Punkt hatte die Landsgemeinde aber für die Totalrevision ganz konkrete Vorbildfunktion: Der Verfassungsrat schrieb nämlich neben der Volksinitiative, mit der 5000 Bürger eine Verfassungs- oder Gesetzesänderung zur Abstimmung bringen konnten, auch das Instrument der Einzelinitiative in die Verfassung. Diese war ein Direktimport aus dem Kanton Glarus. Dort kann bekanntlich ein einziger Bürger einen Vorschlag (Memorialsantrag) zuhanden des gesamten Stimmvolkes stellen.

In Zürich wurde das Instrument freilich nicht ganz so weitgehend ausgestaltet. Es wäre auch kaum praktikabel gewesen, angesichts der Grösse des Kantons und der Tatsache, dass über die Vorschläge nicht an einer Landsgemeinde werden konnte, sondern dass Urnenabstimmungen dafür durchgeführt werden mussten.

Die Zürcher Verfassungsväter schrieben deshalb die Bedingung in die Verfassung, dass eine Einzelinitiative (im Gegensatz zur Volksinitiative) nur dann vors Volk kommen sollte, wenn mindestens ein Drittel des Kantonsrats ihr zustimmt. Der Urheber des Vorschlags, Johann Caspar Sieber, hatte zu dieser Einschränkung Hand geboten, da der Verfassungsrat das Instrument der Einzelinitiative sonst wohl abgelehnt hätte.

Damit wurde der Glarner Memorialsantrag in eine für den Kanton Zürich realistische Form gebracht. Zugleich wurde mit der Einschränkung natürlich auch die Schlagkraft der Einzelinitiative reduziert. Es verwundert denn auch nicht, dass das Instrument eher ein Mauerblümchendasein fristet. 13 mal kam gemäss der Datenbank des Kantons eine Einzelinitiative zur Abstimmung (unter anderem jene eines gewissen Mario Fehr, der 1989 die Ergreifung einer Standesinitiative betreffend autofreie Sonntage forderte). Zum Vergleich: Seit 1869 stimmten die Zürcher über 174 Volksinitiativen ab. Da die Unterschriftenhürde für Volksinitiativen im Kanton Zürich relativ tief ist, ist es kaum mit mehr Aufwand verbunden, 6000 Unterschriften zu sammeln, als 60 Parlamentarier von einem Vorschlag zu überzeugen.

Mit der Totalrevision von 2005 wurden dem Instrument weitere Zähne gezogen: Seither müssen Einzelinitiativen in einem ersten Schritt die vorläufige Unterstützung von 60 Kantonsräten erlangen, anschliessend verfasst der Regierungsrat einen Antrag und Bericht dazu, schliesslich muss die Initiative eine Mehrheit des Parlaments hinter sich vereinen.

«Ehrwürdig, aber schwerfällig»

Nachdem am 18. April 1869 die neue Verfassung angenommen worden war, schrieb der Winterthurer «Landbote», das Hausblatt der Demokraten, begeistert, das Werk sei der «erste konsequente Versuch, die Idee der reinen Volksherrschaft in einer den modernen Kulturverhältnissen entsprechenden Form durchzuführen und die ehrwürdige aber schwerfällige und nur für kleine Verhältnisse geeignete Landsgemeinde durch eine Einrichtung zu ersetzen, deren Eckstein die Abstimmung durch die Urne in den Gemeinden ist.»[3]

Für die Demokraten war die Landsgemeinde zu schwerfällig, um im Kanton Zürich umgesetzt zu werden, aber immerhin ehrwürdig genug, um ihnen als Vorbild zu dienen. Die Institution hatte sowohl auf ideeller als auch auf praktischer Ebene Einfluss auf die Zürcher Verfassungsrevision und damit auf die Entwicklung der (direkten) Demokratie in der Schweiz.


[1] Siehe auch: Lukas Leuzinger (2018): Ds Wort isch frii. Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart und Zukunft, S. 35-36.

[2] Im Gegenteil: Mit der neuen Verfassung wurden die Wahlen an Kreisversammlungen durch Urnenwahlen (und -abstimmungen) ersetzt.

[3] «Der Landbote», 20. April 1869, zitiert nach Andreas Gross: Die unvollendete Direkte Demokratie. 1984-2015: Texte zur Schweiz und darüber hinaus, S. 37.

Stimmbeteiligung an der Landsgemeinde erstmals systematisch untersucht

Die Landsgemeinde bietet sehr weitgehende Mitbestimmungsrechte. Allerdings weiss niemand, wie viele Stimmberechtigte von diesen Rechten tatsächlich Gebrauch machen. In einem Beitrag in der Fachzeitschrift LeGes haben Hans-Peter Schaub und ich die Stimmbeteiligung an der Landsgemeinde anhand von Fotografien des Rings erstmals systematisch untersucht. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Teilnehmerzahl deutlich tiefer liegt als bisher vermutet und über die Zeit hinweg eher gesunken ist.

Die Untersuchung haben wir in Beiträgen für die Südostschweiz sowie den Blog DeFacto zusammengefasst. Der LeGes-Artikel ist hier zugänglich.

Stimmen zur Landsgemeinde #16: Alexis de Tocqueville

Alexis_de_tocqueville«Über die Demokratie in Amerika» heisst Alexis de Tocquevilles bekanntestes Werk. Doch der französische Gelehrte untersuchte nicht nur die Demokratie in den USA, sondern auch in ihrer «Schwesterrepublik», der Schweiz. Die Landsgemeinde – die Tocqueville als «reine Demokratie» bezeichnete – beschrieb er als zwar interessante, aber ganz und gar überholte Institution. Tatsächlich schafften kurze Zeit später die Kantone Zug und Schwyz die Landsgemeinde ab. Dass es die Versammlung hingegen in Glarus und Appenzell Innerrhoden auch knapp 170 Jahre später noch gibt, würde Tocqueville wohl überraschen.

«Die reine Demokratie bildet in der modernen Welt eine Ausnahme, selbst in der Schweiz, denn nur ein Dreizehntel der Bevölkerung wird auf diese Weise regiert. Zudem ist sie eine vorübergehende Erscheinungsform. Es ist nicht genug bekannt, dass in den Schweizer Kantonen, wo sich das Volk die Machtausübung am meisten bewahrt hat, ein Repräsentativorgan existiert, das mit einem Teil der Regierungsaufgaben betraut ist. Nun ist beim Studium der jüngeren Geschichte der Schweiz leicht zu sehen, dass die Angelegenheiten, mit denen sich in der Schweiz das Volk befasst, allmählich an Zahl abnehmen, und diejenigen, die seine Repräsentanten behandeln, dagegen von Tag zu Tag zahlreicher und unterschiedlicher werden. Auf diese Weise verliert die reine Demokratie ein Terrain, das die andere [repräsentative Demokratie] gewinnt. Die eine wird unmerklich zur Ausnahme, die andere zur Regel.»[1]


[1] Quelle: Alexis de Tocqueville (2006 [1848]): Bericht über die Demokratie in der Schweiz, in: Kleine politische Schriften, S. 168.

Stimmen zur Landsgemeinde #12: Max Weber

max_weber_1894Die Landsgemeinde ist auch aus soziologischer Sicht interessant. Aus diesem Grund nahm der deutsche Soziologe Max Weber in den 1890er Jahren eine Einladung eines befreundeten Schweizer Wissenschaftlers an, die Landsgemeinde in Glarus zu besuchen. Was er sah, ordnete Weber sogleich in seine Theorien zur Herrschaftssoziologie ein. Er sah die Landsgemeindedemokratien als Beispiele für «Honoratiorenherrschaft». Unter Honoratioren verstand er reiche und angesehene Leute, die ein Einkommen haben, ohne viel dafür tun zu müssen (z.B. Gutsherren oder Solddienstunternehmer), und es sich daher leisten können, ein schlecht bezahltes Verwaltungsamt auszuüben, ohne finanzielle Probleme zu bekommen. Mit Demokratie hat das natürlich wenig zu tun, wie Weber nüchtern feststellte:

«Wenn Sie nun aber die Listen der Landammänner verfolgen, die da in einer solchen Schweizer Demokratie alten Stils durch fünfzig oder sechzig Jahre hindurch gewählt wurden, so werden Sie finden, dass es auffallend häufig dieselben waren oder dass doch bestimmte Familien diese Ämter von alters her in der Hand hatten, dass also zwar eine Demokratie im Rechte bestand, diese Demokratie aber tatsächlich aristokratisch verwaltet wurde. Und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, weil das Amt etwa eines Landammannes nicht jeder Gewerbetreibende übernehmen konnte, ohne sich in seinem Gewerbe zu ruinieren. Er musste im wirtschaftlichen Sinne ‹abkömmlich› sein und das ist in der Regel nur ein Mann von einigem Vermögen. Oder man muss ihn hoch bezahlen und durch Pension versorgen. Die Demokratie hat nur die Wahl: entweder billig durch reiche Leute im Ehrenamt verwaltet zu werden oder teuer durch bezahlte Berufsbeamte.»[1]


[1] Quelle: Georg Thürer (1950): Unsere Landsgemeinden, S. 138-139.

Stimmen zur Landsgemeinde #11: Marianne Dürst, 56, alt Regierungsrätin (FDP)

marianneduerst«Ich war schon als Kind zuweilen im Ring und verfolgte die Landsgemeinde. Schon damals merkte ich, dass das ein wichtiges Ereignis ist im Kanton. Ernsthaftes Interesse für Politik entwickelte ich aber erst, als ich mich als Jus-Studentin bei den Jungfreisinnigen zu engagieren begann. Als ich 1998 in den Regierungsrat gewählt wurde, erhielt die Landsgemeinde nochmals eine ganz andere Bedeutung. Für die Regierung ist sie eine Art Lackmus-Test. Hier steht man den Bürgern Red und Antwort, hier entscheidet sich, ob die ausgearbeiteten Vorlagen mehrheitsfähig sind. Es kann sehr viel Unvorhergesehenes passieren, wie sich bei der Gemeindestrukturreform gezeigt hat. Als Regierungsmitglied muss man geistesgegenwärtig sein, um auf Änderungsanträge reagieren zu können. Das ist aber auch ein Mehrwert, den die Landsgemeinde bietet. Im Prinzip ist sie ein direkter Dialog mit dem Souverän, mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Ich war die erste Frau, die in die Glarner Regierung gewählt wurde. Ich hatte schon das Gefühl, anders behandelt zu werden als meine Kollegen. Vielleicht hatte das auch damit zu tun, dass ich eine Quereinsteigerin war und mit vielen politischen Gepflogenheiten nicht so vertraut. Das macht einem das Leben nicht unbedingt leichter. Die ersten vier Jahre empfand ich als wirklich schwierig. Ich wurde – das bestätigten mir Kollegen später persönlich – wenig unterstützt. Nach dem Motto: Nun soll sie einmal zeigen, was sie kann. Dadurch schlug ich vielleicht öfter einmal den Kopf an oder stiess andere vor den Kopf. Aber mit der Zeit bin ich gut damit klargekommen, und ich habe daraus auch sehr viel gelernt.

Ich habe begonnen, mich vertieft mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, mit den vielen Klischees, denen ich begegnete, zu beschäftigen. Wenn eine Frau etwas macht, wird das eben vielfach anders angesehen, als wenn ein Mann das Gleiche macht. Das motivierte mich dann auch, das Präsidium der FDP-Frauen zu übernehmen und mich für eine bessere Vertretung der Frauen in der Politik einzusetzen. Ich bin überzeugt, dass es in allen Gremien Frauen und Männer braucht, da beide viel voneinander lernen können und gemischte Teams besser agieren.»

Stimmen zur Landsgemeinde #10: Bernhard Becker

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Bildquelle: Glarner Heimatbuch

Bernhard Becker (1819-1879) war lange Jahre Pfarrer in Linthal; Bekanntheit erlangte er aber vor allem aber als sozial engagierter Bürger und Vorkämpfer für eine gesetzliche Regelung zum Schutz der Fabrikarbeiter. Daneben war er auch noch als Korrespondent für die «Basler Nachrichten» tätig. Für sie schrieb er auch über die Landsgemeinde 1864, die das erste Fabrikgesetz beschloss. Kein Wunder äusserte er sich in seinem damaligen Artikel lobend über die Institution der Landsgemeinde:

«[Die Glarner Landsgemeinde] ist kein Oberammergauer Passionsspiel, das wie ein mittelalterliches Stück in die Neuzeit hineinragt, keine Rarität, die als solche gepflegt wird und vor den Fremden aufgeführt. Wir führen keine Landsgemeinde auf. An der Glarner Landsgemeinde ist Leben und Wesen; wir schaffen; sie ist eine Schule und ein Ort demokratischen Lebens.» [1]

 


[1] Quelle: Bernhard Becker: Die Glarner Landsgemeinde 1861-1878, S. 26-27.

Stimmen zur Landsgemeinde #9: Heinrich Schiesser, 60, Bauer und ehemaliger Gemeindepräsident, Braunwald

heinrichschiesser«Ich gehe ab und zu an die Landsgemeinde, je nachdem, ob Geschäfte behandelt werden, die mich interessieren oder betreffen. Als ich Gemeinderat und später Gemeindepräsident war, war das etwas häufiger der Fall als heute.

Die Landsgemeinde ist aus meiner Sicht eine überholte Institution. Im Mittelalter war das vielleicht ein sinnvolles Modell, aber im 21. Jahrhundert geht es nicht an, dass man die Stimmen schätzt anstatt zu zählen. Man stelle sich ein Stimmlokal vor, in dem der Stimmenzähler die Ja- und die Nein-Stimmen jeweils auf einen Haufen legen und dann schätzen, welcher von beiden grösser ist. Jeder Schweizer Wahlbeobachter würde ein solches Verfahren in einem anderen Land scharf kritisieren, aber hierzulande akzeptiert man das. Der zweite Nachteil der Landsgemeinde ist, dass Stimmberechtigte, die krank oder gebrechlich sind oder die am Landsgemeindesonntag arbeiten müssen, von der Teilnahme ausgeschlossen sind.

Diese Gründe haben mich dazu bewogen, 2007 einen Memorialsantrag zur Abschaffung der Landsgemeinde einzureichen. Ich schätzte die Erfolgschancen von Anfang an als klein ein. Als der Landrat dann den Antrag für unerheblich erklärte, war mir klar, dass die Sache aussichtslos war. Deshalb ergriff ich an der Landsgemeinde auch nicht mehr das Wort.

Ich war der Landsgemeinde gegenüber schon immer kritisch eingestellt. Der Entscheid für die Gemeindestrukturreform von 2006 hat mich in meiner Haltung noch bestärkt. Das Abstimmungsergebnis war sehr knapp. Ich glaube, die Fusion war ein Fehler. Man versprach im Vorfeld Millioneneinsparungen. Wirklich billiger ist es mit den neuen Strukturen aber nicht geworden. Dafür sind die Distanzen grösser geworden. Wenn ich als Braunwalder früher etwas von der Gemeindeverwaltung brauchte, musste ich nur ein paar Schritte gehen; Heute muss ich die Bahn nehmen und nach Schwanden fahren. Vor der Fusion kamen in Braunwald jeweils zwischen 40 und 100 Stimmberechtigte an die Gemeindeversammlung. Heute nehmen noch höchstens 10 den Weg nach Schwanden auf sich.»

Stimmen zur Landsgemeinde #8: Christoph Meiners

meinerscDer Deutsche Christoph Meiners (1747-1810) beschäftigte sich als Universalgelehrter von Psychologie über Philosophie bis zu Ethnologie mit so ziemlich allen Fachgebieten und sah viel von der Welt. Auch die Schweiz bereiste er und war als Beobachter auch an der Landsgemeinde in Glarus. Sehr erfreut war er allerdings nicht über das Staatswesen, das den «unwissenden güterlosen Menschen» derart viel Einfluss gewährt, wie er in einem Brief an einen Freund berichtete:

«Meinen jetzigen Einsichten nach widerspricht nichts der Erfahrung und Geschichte mehr, als die gewöhnlichen Gemeinplätze der Freunde demokratischer Verfassungen: dass das Volk in seinen eigenen Angelegenheiten sehr richtig urtheile, und sein wahres Interesse besser, als Fürsten und Obrigkeiten verstehe (…) Sie, mein Werthester, werden eben so wenig, als ich, eine Verfassung bewundern können, in welcher nicht nur sechzehnjährige Knaben, und unwissende güterlose Menschen Gesetze geben und abschaffen, und alle Magistratspersonen wählen und entsetzen, sondern in welcher auch unwissende oder wenig begüterte Mäner in solchen Ämtern erhoben werden können, die einen gebildeten Geist, mannigfaltige Kenntnisse, und besonders Unbestechlichkeit und Uneigennützigkeit erfordern. Ich kann ferner unmöglich eine Verfassung lieben, in welcher der Arme über den Reichen, der Unwissende über den Einsichtsvollen, der Untergeordnete über seine Obrigkeit herrscht.»[1]


[1] Quelle: Christoph Meiners (1791): Briefe über die Schweiz, Dritter Theil, S. 118-119.

Macht uns Demokratie zu Hooligans?

Politik korrumpiere uns, findet der US-amerikanische Philosoph Jason Brennan und will daher nur noch Auserwählten ein Stimmrecht zugestehen. Doch ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert.

«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben.» Mit diesen Worten argumentierte der damalige Glarner Regierungsrat Hans Meier 1970 im Parlament gegen die Wahl der Regierung an der Urne, die ein Memorialsantrag der Freisinnigen forderte. Meier wollte damit sagen, dass die Wahl an der Urne für viele Wähler zu komplex sei, und man daher bei dem (vermeintlich einfacheren) Verfahren der Wahl an der Landsgemeinde bleiben sollte. Es ging ihm nicht darum, die Demokratie generell in Frage zu stellen (immerhin hatten die «dummen Wähler» ihn ja zum Regierungsrat gewählt).

Herrschaft der Wissenden

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«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben», erklärte Regierungsrat Hans Meier laut Landratsprotokoll. Doch soll man die «dummen Wähler» von der Politik fernhalten?

Trotzdem musste ich an das Argument Meiers denken, als ich kürzlich das Buch «Against Democracy» des US-amerikanischen politischen Philosophen Jason Brennan las, das jüngst auf Deutsch erschienen ist.[1] Brennan argumentiert, den meisten Wählern fehle an grundlegendstem Wissen, um kompetente politische Entscheidungen zu treffen, und das wenige, was sie wüssten, interpretierten sie in verzerrter Weise. Er zitiert zahlreiche Studien (interessanterweise fast ausschliesslich aus den USA), um seine These zu unterlegen. Als «Lösung» schlägt er vor, die Demokratie durch eine «Epistokratie» zu ersetzen, in der nur jene das Stimmrecht erhalten, die kompetent genug bestehen.

Bei der Frage, wie man die kompetentesten Bürger auswählen soll, und überhaupt bei der praktischen Umsetzung der Idee bleibt das Buch ziemlich vage. Das soll hier jedoch nicht das Thema sein. Denn Brennan geht noch weiter: Er sagt nicht nur, dass die meisten Leute nicht die nötige Kompetenz hätten, um sich an der Politik zu beteiligen, sondern dass das auch gar nicht gut sei für sie: Politik korrumpiere die Menschen, mache aus umgänglichen Zeitgenossen politische «Hooligans», die Leute mit anderen Meinungen verachteten und beleidigten. Brennan will den Menschen diesen Stress ersparen und sie von der Politik fernhalten.

Ich erinnerte mich an Brennans These, als ich kürzlich die Landsgemeinde in Glarus verfolgte. Während ich den Reden der Teilnehmer lauschte, fragte ich mich: Werden die Leute, die an die Landsgemeinde gehen, dadurch zu schlechteren Menschen? Es stimmt, dass die Diskussionen im Ring zuweilen hitzig und emotional sind. Trotzdem begegnen sich die Stimmberechtigten im Allgemeinen doch mit Respekt. Obschon sie unmittelbar nebeneinander stehen, erlebt man es kaum je oder nie, dass einer den anderen beschimpft oder es gar zu Handgreiflichkeiten kommt (was man erwarten würde, wenn man Brennan’s Buch liest). Ausfälligkeiten der Redner auf dem Ring sind ebenfalls selten, und wenn sie vorkommen, werden Betreffenden nicht nur vom Landammann zurechtgewiesen, sondern auch von den Stimmberechtigten bestraft. Wer Argumente mit Beleidigungen verwechselt, tut seinem Anliegen in der folgenden Abstimmung keinen Gefallen.

Politik ist nicht Wasserskifahren

Zweifellos führt Politik oft zu aufgeheizten Diskussionen zwischen Leuten, die unterschiedliche Meinungen vertreten. Aber wer, wie Brennan, glaubt, dass man solche Animostitäten abschalten könnte, indem man einen Teil der Bürger aus der Politik raushält, macht einen Denkfehler. Politik ist nicht ein Hobby wie Wasserskifahren, mit dem man sich einige Stunden beschäftigt, um danach wieder zum Alltag zurückzukehren. Denn Politik betrifft unseren Alltag direkt. In der Politik geht es darum zu entscheiden, wie wir unser Zusammenleben als Gesellschaft gestalten. Es gibt keine Aktivität in unsere Leben, die nicht von Politik beeinflusst wäre. Deshalb wäre es töricht zu glauben, die Leute würden sich von der Politik fernhalten, wenn man sie von der formellen politischen Mitbestimmung ausschliesst. Das ist, als würde man annehmen, dass die Leute sich nicht mit dem Wetter befassen, weil sie dieses nicht beeinflussen können. Menschen haben sich wegen politischen Fragen die Köpfe eingeschlagen, als die meisten von ihnen noch keinerlei politische Rechte hatten.

An der Landsgemeinde stehen sich politische Gegner Auge in Auge gegenüber. Man diskutiert, versucht den anderen zu überzeugen, und stimmt am Ende ab. Dadurch, dass man gezwungen ist, sich auch die Argumente des Gegners anzuhören, ist es nicht so leicht, allein aufgrund von Vorurteilen einen Entscheid zu fällen. «Citizens who see one another at a meeting realize that their opponents are human», schrieb die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Mansbridge.[2] Oder wie es sich langjährige Glarner Landammann und spätere Bundesrat Joachim Heer ausdrückte: «[Es ist] ein gar gutes Ding, wenn wenigstens jedes Jahr einmal die verschiedenen Elemente des Volkes sich persönlich einander gegenüberstehen und ins Auge blicken; die Menschen rücken erst dann recht weit auseinander, wenn sie sich nicht mehr sehen und sprechen und jeder vom anderen nur noch vom Hörensagen oder vorgefassten Ideen urteilen kann.»[3]

Debatte statt Schlägerei

Ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert. Sie betrifft uns alle, und wir alle haben Meinungen zu politischen Entscheiden, ob wir uns daran beteiligen oder nicht. Die Wahl ist nicht, ob wir uns damit beschäftigen oder nicht, sondern nur, wie wir uns damit beschäftigen. Natürlich sind die Bürger in Glarus oder Appenzell nicht bessere Menschen, weil sie an der Landsgemeinde teilnehmen. Ebenso sind die Debatten nicht immer hochstehend und vernünftig. Doch hat man, wenn man die Versammlung verfolgt, nicht das Gefühl, die politische Diskussion würde Bürger radikalisieren und die Konflikte zwischen ihnen anheizen. Im Gegenteil wirkt es eher so, dass nach den zuweilen hitzigen Debatten der «Dampf» wieder für eine Weile abgelassen ist. Und wann er an einer demokratischen Versammlung abgehalten wird anstatt in einer Schlägerei oder einem Bürgerkrieg – umso besser.

Es soll hier nicht darum gehen, die Landsgemeinde zu idealisieren. Der Punkt ist vielmehr, dass Politik und demokratische Diskussionen uns nicht – oder zumindest nicht immer – in politische «Hooligans» verwandelt, wie dies Brennan anzunehmen scheint. Vielleicht spielt auch die politische Kultur eine Rolle. Wie wir wissen, sind keinesfalls alle demokratischen Versammlungen friedlich verlaufen. Ein gewisses Mass an Toleranz, Respekt und Kompromissbereitschaft scheint also Voraussetzung zu sein, damit politische Diskussionen fruchtbar sind. Vielleicht liegt hier eher das Problem der Politik (insbesondere in den USA, auf die sich Brennan vor allem bezieht) – und nicht bei der Politik an sich.


[1] Jason Brennan (2017): Gegen Demokratie.

[2] Jane Mansbridge (1980): Beyond Adversary Democracy, S. 74.

[3] Brief an Ratsherr Sarasin, 4. Januar 1860, zitiert in: Hans Lehnherr (1983): Der Einfluss des Kantons Glarus auf das Schweizerische Arbeitsrecht, Dissertation Universität Bern, S. 32.