Save the date: 23/24. März & 19. April 2018: Präsentation, Podiumsdiskussion und Buchvernissage

Die letzten Arbeiten an meinem Buch über die Landsgemeinde in Glarus laufen auf Hochtouren. Im Frühjahr 2018 ist es so weit: «Ds Wort isch frii» wird publiziert. Die erste Gelegenheit, das Buch zu sehen, wird sich im März in Braunwald bieten: Am 23. März wird es im Kulturcafé Bsinti eine kleine Buchpräsentation geben, und zwar im Rahmen einer Ausstellung über die Landsgemeinde. Am Tag darauf, am 24. März, werde ich, ebenfalls im Bsinti, an einer Diskussionsrunde zum Thema Demokratie teilnehmen, und zwar mit Hans-Peter Schaub und Hans-Ulrich Locher, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema beschäftigt haben. (Mehr Informationen hier.)

Die eigentliche Buchvernissage wird dann am 19. April in der Buchhandlung Baeschlin in Glarus stattfinden. Weitere Details werde ich euch zu einem späteren Zeitpunkt mit der offiziellen Einladung mitteilen. Alle Interessierte sind schon jetzt herzlich eingeladen, zu einer der drei Veranstaltungen (oder zu allen) zu kommen.

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Macht uns Demokratie zu Hooligans?

Politik korrumpiere uns, findet der US-amerikanische Philosoph Jason Brennan und will daher nur noch Auserwählten ein Stimmrecht zugestehen. Doch ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert.

«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben.» Mit diesen Worten argumentierte der damalige Glarner Regierungsrat Hans Meier 1970 im Parlament gegen die Wahl der Regierung an der Urne, die ein Memorialsantrag der Freisinnigen forderte. Meier wollte damit sagen, dass die Wahl an der Urne für viele Wähler zu komplex sei, und man daher bei dem (vermeintlich einfacheren) Verfahren der Wahl an der Landsgemeinde bleiben sollte. Es ging ihm nicht darum, die Demokratie generell in Frage zu stellen (immerhin hatten die «dummen Wähler» ihn ja zum Regierungsrat gewählt).

Herrschaft der Wissenden

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«Ferner ist darauf hinzuweisen, dass wir leider viele dumme Wähler haben», erklärte Regierungsrat Hans Meier laut Landratsprotokoll. Doch soll man die «dummen Wähler» von der Politik fernhalten?

Trotzdem musste ich an das Argument Meiers denken, als ich kürzlich das Buch «Against Democracy» des US-amerikanischen politischen Philosophen Jason Brennan las, das jüngst auf Deutsch erschienen ist.[1] Brennan argumentiert, den meisten Wählern fehle an grundlegendstem Wissen, um kompetente politische Entscheidungen zu treffen, und das wenige, was sie wüssten, interpretierten sie in verzerrter Weise. Er zitiert zahlreiche Studien (interessanterweise fast ausschliesslich aus den USA), um seine These zu unterlegen. Als «Lösung» schlägt er vor, die Demokratie durch eine «Epistokratie» zu ersetzen, in der nur jene das Stimmrecht erhalten, die kompetent genug bestehen.

Bei der Frage, wie man die kompetentesten Bürger auswählen soll, und überhaupt bei der praktischen Umsetzung der Idee bleibt das Buch ziemlich vage. Das soll hier jedoch nicht das Thema sein. Denn Brennan geht noch weiter: Er sagt nicht nur, dass die meisten Leute nicht die nötige Kompetenz hätten, um sich an der Politik zu beteiligen, sondern dass das auch gar nicht gut sei für sie: Politik korrumpiere die Menschen, mache aus umgänglichen Zeitgenossen politische «Hooligans», die Leute mit anderen Meinungen verachteten und beleidigten. Brennan will den Menschen diesen Stress ersparen und sie von der Politik fernhalten.

Ich erinnerte mich an Brennans These, als ich kürzlich die Landsgemeinde in Glarus verfolgte. Während ich den Reden der Teilnehmer lauschte, fragte ich mich: Werden die Leute, die an die Landsgemeinde gehen, dadurch zu schlechteren Menschen? Es stimmt, dass die Diskussionen im Ring zuweilen hitzig und emotional sind. Trotzdem begegnen sich die Stimmberechtigten im Allgemeinen doch mit Respekt. Obschon sie unmittelbar nebeneinander stehen, erlebt man es kaum je oder nie, dass einer den anderen beschimpft oder es gar zu Handgreiflichkeiten kommt (was man erwarten würde, wenn man Brennan’s Buch liest). Ausfälligkeiten der Redner auf dem Ring sind ebenfalls selten, und wenn sie vorkommen, werden Betreffenden nicht nur vom Landammann zurechtgewiesen, sondern auch von den Stimmberechtigten bestraft. Wer Argumente mit Beleidigungen verwechselt, tut seinem Anliegen in der folgenden Abstimmung keinen Gefallen.

Politik ist nicht Wasserskifahren

Zweifellos führt Politik oft zu aufgeheizten Diskussionen zwischen Leuten, die unterschiedliche Meinungen vertreten. Aber wer, wie Brennan, glaubt, dass man solche Animostitäten abschalten könnte, indem man einen Teil der Bürger aus der Politik raushält, macht einen Denkfehler. Politik ist nicht ein Hobby wie Wasserskifahren, mit dem man sich einige Stunden beschäftigt, um danach wieder zum Alltag zurückzukehren. Denn Politik betrifft unseren Alltag direkt. In der Politik geht es darum zu entscheiden, wie wir unser Zusammenleben als Gesellschaft gestalten. Es gibt keine Aktivität in unsere Leben, die nicht von Politik beeinflusst wäre. Deshalb wäre es töricht zu glauben, die Leute würden sich von der Politik fernhalten, wenn man sie von der formellen politischen Mitbestimmung ausschliesst. Das ist, als würde man annehmen, dass die Leute sich nicht mit dem Wetter befassen, weil sie dieses nicht beeinflussen können. Menschen haben sich wegen politischen Fragen die Köpfe eingeschlagen, als die meisten von ihnen noch keinerlei politische Rechte hatten.

An der Landsgemeinde stehen sich politische Gegner Auge in Auge gegenüber. Man diskutiert, versucht den anderen zu überzeugen, und stimmt am Ende ab. Dadurch, dass man gezwungen ist, sich auch die Argumente des Gegners anzuhören, ist es nicht so leicht, allein aufgrund von Vorurteilen einen Entscheid zu fällen. «Citizens who see one another at a meeting realize that their opponents are human», schrieb die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Mansbridge.[2] Oder wie es sich langjährige Glarner Landammann und spätere Bundesrat Joachim Heer ausdrückte: «[Es ist] ein gar gutes Ding, wenn wenigstens jedes Jahr einmal die verschiedenen Elemente des Volkes sich persönlich einander gegenüberstehen und ins Auge blicken; die Menschen rücken erst dann recht weit auseinander, wenn sie sich nicht mehr sehen und sprechen und jeder vom anderen nur noch vom Hörensagen oder vorgefassten Ideen urteilen kann.»[3]

Debatte statt Schlägerei

Ein Leben ohne Politik ist weder möglich noch wünschenswert. Sie betrifft uns alle, und wir alle haben Meinungen zu politischen Entscheiden, ob wir uns daran beteiligen oder nicht. Die Wahl ist nicht, ob wir uns damit beschäftigen oder nicht, sondern nur, wie wir uns damit beschäftigen. Natürlich sind die Bürger in Glarus oder Appenzell nicht bessere Menschen, weil sie an der Landsgemeinde teilnehmen. Ebenso sind die Debatten nicht immer hochstehend und vernünftig. Doch hat man, wenn man die Versammlung verfolgt, nicht das Gefühl, die politische Diskussion würde Bürger radikalisieren und die Konflikte zwischen ihnen anheizen. Im Gegenteil wirkt es eher so, dass nach den zuweilen hitzigen Debatten der «Dampf» wieder für eine Weile abgelassen ist. Und wann er an einer demokratischen Versammlung abgehalten wird anstatt in einer Schlägerei oder einem Bürgerkrieg – umso besser.

Es soll hier nicht darum gehen, die Landsgemeinde zu idealisieren. Der Punkt ist vielmehr, dass Politik und demokratische Diskussionen uns nicht – oder zumindest nicht immer – in politische «Hooligans» verwandelt, wie dies Brennan anzunehmen scheint. Vielleicht spielt auch die politische Kultur eine Rolle. Wie wir wissen, sind keinesfalls alle demokratischen Versammlungen friedlich verlaufen. Ein gewisses Mass an Toleranz, Respekt und Kompromissbereitschaft scheint also Voraussetzung zu sein, damit politische Diskussionen fruchtbar sind. Vielleicht liegt hier eher das Problem der Politik (insbesondere in den USA, auf die sich Brennan vor allem bezieht) – und nicht bei der Politik an sich.


[1] Jason Brennan (2017): Gegen Demokratie.

[2] Jane Mansbridge (1980): Beyond Adversary Democracy, S. 74.

[3] Brief an Ratsherr Sarasin, 4. Januar 1860, zitiert in: Hans Lehnherr (1983): Der Einfluss des Kantons Glarus auf das Schweizerische Arbeitsrecht, Dissertation Universität Bern, S. 32.

Das war die Landsgemeinde 2017

Wettermässig war die Landsgemeinde auch dieses Jahr vom Pech verfolgt. Dafür schien für die Behörden die Sonne: Die Stimmbürger folgten bei sämtlichen neun Sachgeschäften dem Antrag des Landrats. Die Stimmbeteiligung war allerdings eher schwach, was wohl einerseits am Wetter lag, andererseits daran, dass trotz wichtiger Themen die ganz grossen Geschäfte fehlten.

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Regenschirme prägten das Bild von der diesjährigen Landsgemeinde.

Die grösste Beachtung, insbesondere für nationale Medien, erhielt der Memorialsantrag für ein Verhüllungsverbot (siehe auch die Vorschau auf die Landsgemeinde auf diesem Blog). Er scheiterte bei der Abstimmung überraschend deutlich. Die Gegner argumentierten vor allem mit der fehlenden Relevanz für den Kanton Glarus, wo es praktisch keine Frauen mit Vollverschleierung gibt, und verwiesen darauf, dass ja bald über eine nationale Regelung abgestimmt werde, weshalb Glarus als nicht betroffener Kanton nicht vorpreschen müsste. Der Initiant des Antrags, Ronald Hämmerli, argumentierte vor allem mit der Sicherheit und warnte vor vermummten Hooligans und Demonstranten, die im Glarnerland allerdings auch eher selten anzutreffen sind.

Nach der Ablehnung des Burkaverbots ging es in raschem Tempo weiter. Nachdem bereits die Änderung des Steuergesetzes ohne Diskussion angenommen wurde, fand auch das Einführungsgesetz zum Bundesgesetz über die Berufsbildung stillschweigende Zustimmung. Gleiches gilt für das neue Gesetz über die politischen Rechte. Zwar stellte ein Stimmbürger den Antrag, technische Hilfsmittel für die Landsgemeinde zuzulassen (analog zu den Gemeindeversammlung, wo das Gesetz diese Möglichkeit vorsieht), Landammann Rolf Widmer lehnte diesen Änderungsantrag jedoch als rechtlich unzulässig ab, da dazu zuerst die Kantonsverfassung geändert werden müsse. Keine Wortmeldung gab es, eher überraschend, zum Memorialsantrag für einen Beitrag des Kantons von 2.2 Millionen Franken. an die Durchführung des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests 2025 in Mollis.

Nochmals für Diskussionen sorgten dann die beiden letzten Traktanden. Die Vorlage zur Kantonalisierung des Schlichtungswesens wurde relativ knapp angenommen (der Landammann musste seine Regierungsratskollegen zum Abschätzen des Mehrs zur Hilfe nehmen). Die Gegner hatten vor einer Reform zulasten der Bürgernähe gewarnt, während sich die Befürworter mehr Effizienz versprechen.

Zum Baugesetz wurde ein ganzer Strauss von Anträgen gestellt. Zu reden gab insbesondere die Höhe der Mehrwertsabgabe, die fällig wird, wenn ein Grundstück infolge einer Zonenänderung mehr Wert erhält. Der Landrat hatte vorgeschlagen, diese Abgabe auf mindestens 20 Prozent des Mehrwerts festzulegen, wobei die Gemeinden darüber hinausgehen können. Anträge von linker Seite wollten diesen Wert auf 30 Prozent erhöhen, während Anträge von rechts die Abgabe bei 20 Prozent fixieren wollten. Weitere Änderungsanträge betrafen die Streichung des Kaufrechts für Gemeinden sowie des Grenzwertabstands. Das Abstimmungsprozedere wurde damit ziemlich komplex. Keiner der Änderungsanträge fand aber eine Mehrheit im Ring (wobei es mehrmals knapp wurde). Am Ende wurde auch dieses Gesetz gemäss dem Antrag des Landrats gutgeheissen.

Nach fast drei Stunden bei nassem Wetter wurden die Teilnehmer erlöst und konnten sich beim Mittagessen aufwärmen. Bei Kalberwurst, Kartoffelstock und Zwetschgen liess man die Landsgemeinde 2017 revue passieren.

Helvetische Vorläufer des Burkaverbots

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog History Reloaded.

Politisch gesehen, ist die Burka derzeit das wohl heisseste Kleidungsstück. Die Tessiner nahmen 2013 eine Volksinitiative an, welche die Verhüllung im öffentlichen Raum verbietet. An diesem Sonntag wird Glarus an der Landsgemeinde über einen Antrag mit gleichem Inhalt abstimmen. Und auf nationaler Ebene sammelt das «Egerkinger Komitee» um SVP-Nationalrat Walter Wobmann Unterschriften für ein «Burkaverbot» (wobei es genau genommen vor allem um den Gesichtsschleier Nikab geht). Noch bis im September hat die Gruppe Zeit, die nötigen 100’000 Unterschriften zusammenzubringen – drei Viertel hat sie bereits.

Dass Kleider nicht nur Leute, sondern auch Staat machen, gilt nicht erst, seit Politiker Vollverschleierung und Ganzkörperbadeanzüge verbieten wollen. Bereits in der frühen Neuzeit gab es fast überall in Europa teils sehr weitgehende Kleidervorschriften und -verbote. So untersagte die St. Galler Obrigkeit der Bevölkerung 1503 das Tragen jeglicher kurzer Kleider. Vorausgegangen waren Klagen über junge Frauen, die ihre «Herzen und Hälse» in unsittlicher Weise entblösst hätten.

Standesunterschiede sichtbar machen

Sogenannte Kleidermandate gab es in vielen Kantonen – ob katholisch oder protestantisch –, es gab sie in den Städten ebenso wie auf dem Land. Begründet wurden solche Vorschriften meist mit der Wahrung von Sitte und Moral. Oft führte die Obrigkeit zudem ins Feld, man müsse das Volk vor sich selber schützen: Es gelte zu verhindern, dass die Leute übermässig viel Geld ausgeben und sich in die Armut stürzen um der Mode willen. Die Verbote betrafen daher oft teure Kleidungsstücke, Schuhe oder aufwendige Verzierungen. Vielfach wurden auch Preisobergrenzen für bestimmte Stücke festgelegt.

Stark dürfte aber eine andere Motivation mitgespielt haben: Die herrschenden Kreise wollten mit den Kleiderregeln die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten aufrechterhalten und öffentlich sichtbar machen. Dies erklärt auch, warum die Vorschriften im 17. Jahrhundert immer detaillierter wurden: In allen Kantonen war damals eine zunehmende Aristokratisierung zu beobachten. Die adlige Oberschicht nabelte sich vom Rest der Bevölkerung ab und wollte ihren Status öffentlich demonstrieren.

Selten legten die Herrschenden ihre Absichten so offen dar wie in Basel 1637, wo der Kleine Rat eine neue, fast 20 Seiten lange Kleiderordnung explizit mit der Befürchtung begründete, dass «eines jeden Wesen und Stand nicht mehr erkent werden mag».

Die Ratsherren erliessen deshalb für jede soziale Gruppe unterschiedliche Anweisungen, was deren Angehörige tragen durften und was nicht. So war Dienstknechten und Taglöhnern das Tragen von genähten Hüten untersagt – sie durften ihre Köpfe lediglich mit Filzhüten bedecken. In St. Gallen waren Kleider aus Damast oder Seide adligen Frauen vorbehalten, ebenso «Bändelchen und Zöttelein», während in Glarus Frauen, die von der Armenfürsorge lebten, bestimmte Kleidungsstücke untersagt waren, beispielsweise seidene Halstücher. Häufig gab es zudem geografisch abgestufte Regeln: So waren in Bern gewisse Kleidungsstücke nur den Städtern erlaubt, auf dem Land hingegen verboten – etwa gefaltete Hosen.

Zwei Jahrhunderte Ruhe

Schneider waren von den Kleidervorschriften ebenfalls betroffen und mussten mit saftigen Bussen rechnen, wenn sie Textilien fertigten, die nicht erlaubt waren. Gleichzeitig wussten sie sich die Vorschriften aber auch zunutze zu machen, um sich unerwünschte ausländische Konkurrenz vom Leib zu halten: Vielfach beschränkten sich Verbote auf importierte Stücke (angeblich, weil diese zu teuer waren), wodurch die einheimischen Produzenten ein Monopol erhielten.

Bei den Konsumenten waren die strengen Vorschriften allerdings nicht sonderlich beliebt. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution stiess die Idee, dass der Staat den Bürgern vorschreiben sollte, was sie zu tragen hatten, zunehmend auf Ablehnung. Die Industrialisierung liess zudem die alten Standesunterschiede verschwimmen. Die Behörden hatten immer mehr Mühe, die Regeln durchzusetzen. Mit der helvetischen Revolution 1798 fielen die Kleidervorschriften endgültig.

Es sollte bis zum 21. Jahrhundert dauern, bis die Idee eines staatlichen Kleidermandats ihr Comeback gab – nun in einem ganz anderen Kontext. Jetzt geht es nicht mehr um die Betonung von Unterschieden, sondern eher um Angleichung. Und während früher mit einer Strafe rechnen musste, wer zu wenig trug, scheint man heute eher das Gegenteil als Gefahr zu sehen.

Wird an der Landsgemeinde bald elektronisch abgestimmt?

Von alters her wird an der Landsgemeinde in Glarus per Handaufheben abgestimmt, die Stimmen werden nur geschätzt – so auch an der diesjährigen Versamlung am kommenden Sonntag. Dabei soll es bleiben, findet das Parlament. Es will keine technische Hilfe. Doch ein umtriebiger Unternehmer will sich damit nicht zufriedengeben.

Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine ausgebaute und aktualisierte Fassung eines Artikels, der am 4. April in der Südostschweiz erschienen ist. Der Beitrag wurde auch auf dem Blog Napoleon’s Nightmare publiziert.

1387 wurde in Glarus die erste belegte Landsgemeinde abgehalten. Damals legte die Versammlung einen Grundsatz fest, der bis heute gilt: nämlich, dass bei Abstimmungen die Mehrheit bestimmt und «der minder Theil» sich zu fügen hat. Doch wer entscheidet, welches die Mehrheit ist und welches die Minderheit? Diese Frage hat in der jüngeren Vergangenheit wiederholt für Diskussionen gesorgt.

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Seit über 600 Jahren stimmen die Glarner an der Landsgemeinde per Handaufheben ab.

Im Prinzip ist die Sache einfach: Wird an der Landsgemeinde abgestimmt, heben zunächst die Befürworter und danach die Gegner einer Vorlage ihre Stimmrechtsausweise in die Höhe. Der Landammann, der die Versammlung leitet, schätzt, welche Seite mehr Stimmen auf sich vereinigt. Ist er sich nicht sicher, kann er seine vier Regierungskollegen beiziehen. Am Ende entscheidet aber er alleine; sein Urteil ist nicht anfechtbar.

Fehleranfälliges Verfahren

Das Abschätzen von Mehrheiten birgt allerdings ein gewisses Risiko für Fehler. Bei knappen Resultaten ist es äusserst schwierig, die Mehrheit von blossem Auge zu erkennen. Seit Jahren kursieren daher in Glarus Vorschläge, wie man die Ergebnisse von Abstimmungen zuverlässiger ermitteln könnte. In Appenzell Innerrhoden, dem anderen der beiden verbliebenen Landsgemeinde-Kantone, werden die Stimmen bei knappen Abstimmungen ausgezählt, indem die Bürger den Ring durch verschiedene Ausgänge verlassen und dabei einzeln registriert werden. An der Glarner Landsgemeinde, die wesentlich grösser ist als jene in Appenzell, würde diese Lösung allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Den Vorschlag, bei knappen Ergebnissen eine Urnenabstimmung im Nachgang zur Versammlung durchzuführen, lehnte die Landsgemeinde 2009 mit deutlichem Mehr ab.

Die Diskussion fokussiert sich daher auf technische Hilfen an der Landsgemeinde. Bereits bei den Arbeiten zur Revision der Kantonsverfassung Ende der 1970er Jahre prüfte die zuständige Kommission, ob die Stimmen mittels eines elektronischen Systems gezählt werden könnten. Der Landrat wollte das Projekt damals nicht weiterverfolgen. Das Thema erschien später aber noch mehrmals auf der politischen Agenda. 2009 gab das Kantonsparlament einen Bericht darüber in Auftrag, welche Systeme in Frage kommen.

Der Bericht, den der emeritierte ETH-Professor Bernhard Plattner vergangenes Jahr vorlegte, identifizierte im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder ein System, das die nach oben gestreckten Stimmrechtsausweise fotografisch erfasst und die Bilder auswertet, oder ein Verfahren mit drahtloser Kommunikation, bei dem jeder Bürger ein spezielles Gerät erhält, mit dem er seine Stimme abgeben kann, ähnlich wie es bei Generalversammlungen grosser Firmen eingesetzt wird. Letzteres System würde eine genauere Ermittlung des Ergebnisses zulassen, wäre aber auch mit mehr Aufwand verbunden, ausserdem bestünde die Gefahr von Manipulationen. Plattner spricht sich für das erste Modell aus, weil er es für besser kompatibel mit der Landsgemeinde hält.

Regierung und Landrat wollen allerdings nichts mehr von technischen Hilfen wissen. Das Parlament beschloss einstimmig, auf eine vertieftere Prüfung der Systeme zu verzichten. Neben den hohen Kosten zur Entwicklung eines elektronischen Systems wurde vor allem der spezielle Charakter der Landsgemeinde angeführt, der verloren ginge.

Unternehmer will elektronisches System einführen

Das vorerst letzte Wort in dieser Frage dürfte aber die Landsgemeinde haben. Ein einzelner Bürger, der Unternehmer Hansjörg Stucki, hat angekündigt, einen Memorialsantrag einzureichen, um den Einsatz elektronischer Systeme an der Landsgemeinde explizit zu ermöglichen. Ganz ohne Hintergedanken tut er das nicht: Stuckis Firma Nimbus bietet nämlich ein elektronisches System an, das seit 2003 bei Generalversammlungen zum Einsatz kommt und sich laut Stucki auch für die Landsgemeinde eignen würde.

Stucki ist sich bewusst, dass ein elektronisches System in einem öffentlichen Auswahlverfahren evaluiert werden müsste. Er verhehlt aber nicht, dass es ihn mit Stolz erfüllen würde, wenn sein System an der Landsgemeinde zum Einsatz käme. Er sei aber bereit, es dem Kanton «zu einem Freundschaftspreis» zur Verfügung zu stellen. Dass Glarus für die Entwicklung eines Abstimmungssystems einen siebenstelligen Betrag ausgeben müsste, wie das die Regierung schreibt, stimme jedenfalls nicht: «Es gibt bereits Systeme, die man einsetzen kann.» Stucki sagt, es gehe ihm vor allem darum, die Landsgemeinde zeitgemässer zu machen. «Technische Hilfsmittel würden die Landsgemeinde nicht schwächen, sondern stärken», ist er überzeugt.

Soziale Kontrolle

Ein weiterer Vorteil eines digitalen Systems wäre, dass im Gegensatz zum heutigen Verfahren das Stimmgeheimnis gewahrt wäre. Zwar erklärten in einer Umfrage der Universität Bern vergangenes Jahr nur gerade 4 Prozent der teilnehmenden Glarner Stimmberechtigten, dass sie die offene Abstimmung oft oder immer störe, bei 13 Prozent war dies selten der Fall. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schaub, der an der Durchführung der Umfrage beteiligt war, findet dennoch, dass eine geheime Stimmabgabe Vorteile hätte. «Die offene Abstimmung ermöglicht eine soziale Kontrolle, die negative Auswirkungen haben kann.»

Schaub verweist ausserdem auf die Abschaffung der Landsgemeinde in Ob- und Nidwalden sowie Appenzell Ausserrhoden: «In allen drei Kantonen gehörten das Stimmgeheimnis und die genauere Ermittlung des Mehrs zu den Hauptargumenten für das Urnensystem.» Auch in Glarus könne die Stimmung schnell kippen, wenn es zwei oder drei umstrittene Entscheide bei emotionalen Themen gäbe.

Richtig knapp war das Ergebnis beim weitreichendsten Entscheid der jüngeren Vergangenheit: der Gemeindestrukturreform von 2006, als die Landsgemeinde auf einen Schlag aus 25 Gemeinden 3 machte. «In der Folge kamen prompt Stimmen auf, die den Fortbestand der Landsgemeinde in Frage stellten», sagt Schaub. Die Gemeindereform kam ein Jahr später an einer ausserordentlichen Landsgemeinde nochmals zur Abstimmung – und wurde klar angenommen. «Wenn es nochmals so knapp gewesen wäre wie beim ersten Mal, wäre die Landsgemeinde ernsthaft gefährdet gewesen», glaubt Schaub.

«Kleines Problem»

Stuckis Antrag werden keine grossen Chancen zugestanden. Zwar wäre es nicht das erste Mal, dass die Landsgemeinde einen Entscheid des Landrats kippt. Spricht man mit den Leuten, erhält man aber den Eindruck, dass die wenigsten das Abstimmungsverfahren als dringendes Problem wahrnehmen. Auch der grüne Landrat Mathias Zopfi hält das Abschätzen des Resultats durch den Landammann nur für ein «kleines Problem». «Die Landsgemeinde hat gewichtigere Probleme, beispielsweise, dass Kranke, Betagte oder Leute, die am Sonntag arbeiten müssen, nicht teilnehmen können», sagt Zopfi. Wenn man das Problem der Ergebnisermittlung löse, werde die Frage auftauchen, warum man nicht gleich auch diese Problematik im gleichen Zuge angehe. «Dann wird der Vorschlag kommen, dass man von zu Hause aus elektronisch abstimmen kann. Das wäre der Anfang vom Ende der Landsgemeinde.»

Wäre das Bestehen der Landsgemeinde durch die Einführung eines elektronischen Systems gefährdet? Oder eher durch das Festhalten am heutigen Verfahren? Darüber werden die Glarner Stimmberechtigten voraussichtlich in einem Jahr entscheiden – mittels Handaufheben, wie immer in den letzten 630 Jahren.

Burkas, Schwingfest, Wahlen: Vorschau auf die Glarner Landsgemeinde 2017

In gut zwei Wochen ist es soweit: Auf dem Zaunplatz in Glarus versammeln sich die Stimmberechtigten zur diesjährigen Glarner Landsgemeinde. Mit 10 Traktanden ist das Programm dieses Jahr unterdurchschnittlich befrachtet. Dennoch wird die Versammlung nicht allzu bald beendet sein, denn einige Geschäfte versprechen ausgedehnte Diskussionen.

Dies gilt insbesondere für den Memorialsantrag für ein Verhüllungsverbot (im Volksmund als «Burkaverbot» bekannt). Dieser war vor zwei Jahren vom SVP-Politiker Ronald Hämmerli eingereicht worden. Er orientiert sich am Tessiner Verhüllungsverbot, welches 2013 in einer Volksabstimmung klar angenommen wurde. Zwar kann die Burka bzw. der Nikab im Glarnerland nicht als dringendes Problem angesehen werden: die zuständige Kommission des Landrats schätzt die Zahl vollverhüllter Frauen im Kanton auf «null bis zwei». Dennoch zeigten sich Regierungsrat und Teile des Landrats offen für das Anliegen. Sowohl Regierung als auch Parlament lehnen den Memorialsantrag aber ab mit dem Verweis auf die Entwicklungen auf Bundesebene: Dort ist bekanntlich eine Volksinitiative für ein schweizweites Verbot hängig. Glarus solle abwarten, bis die Diskussion auf Bundesebene abgeschlossen sei. Ob die Landsgemeinde diesem Antrag folgen wird, ist offen.

Das Verhüllungsverbot ist das Geschäft, das ausserhalb des Kantons die grösste Aufmerksamkeit erhalten wird, doch auch andere Vorlagen dürften zu reden geben. So etwa die Änderung des Raumentwicklungs- und Baugesetzes, die ganz am Ende behandelt wird. Diese wurde nicht zuletzt aufgrund des neuen Raumplanungsgesetzes auf Bundesebene nötig. Im Vorfeld gab die vorgesehene Einführung eines Kaufrechts für die Gemeinden zu reden. Damit sollen Gemeinden das Recht erhalten, für die Entwicklung wichtige Grundstücke zum Verkehrswert zu kaufen, wenn der Eigentümer diese nicht innert zehn Jahren bebaut. Ebenfalls umstritten war die sogenannte Mehrwertabgabe. Diese sollen Grundeigentümer zahlen, wenn ein Grundstück infolge einer Zonenänderung mehr Wert erhält. Der Landrat hatte beschlossen, dass die Abgabe mindestens 20 Prozent des Mehrwerts betragen soll, die Gemeinden können aber darüber hinausgehen. In beiden Punkten ging das Gesetz aus Sicht der SVP zu weit; sie unterlag im Parlament mit ihren Anträgen jedoch.

Weniger umstritten war im Landrat das neue Gesetz über die politischen Rechte. Dieses soll das bisherige Abstimmungsgesetz ersetzen. Es übernimmt dessen Bestimmungen zu einem grossen Teil, konkretisiert sie aber teilweise. Materielle Änderungen sieht das neue Gesetz beim Wahlsystem für den Landrat vor: Die Sitze sollen nicht mehr nach dem sogenannten Hagenbach-Bischoff-Verfahren (das auch bei den Nationalratswahlen zur Anwendung kommt), sondern nach dem Sainte-Laguë-Verfahren verteilt werden. Bei letzterem werden die Sitzansprüche mit Standardrundung entweder auf- oder abgerundet. Das bisherige Hagenbach-Bischoff-Verfahren rundet immer ab, wodurch tendenziell grosse Parteien bevorzugt werden. Als weitere Änderung wird die Rechtsgrundlage geschaffen, damit die elektronische Stimmabgabe (bei Urnenabstimmungen und -wahlen) für alle Stimmberechtigten zugänglich gemacht werden kann. Bisher ist E-Voting ausschliesslich für Auslandglarner möglich. Allerdings ist sobald nicht mit einer Ausweitung zu rechnen, da Glarus derzeit kein E-Voting-System (mehr) hat.

Das neue Gesetz betrifft auch die Landsgemeinde: So wird das Verfahren bei Wahlen erstmals gesetzlich geregelt. Zudem hält das Gesetz explizit fest, dass an der Landsgemeinde per offenem Handmehr abgestimmt wird. Dieses Thema wird wohl bald separat vor die Landsgemeinde kommen: Der Unternehmer Hansjörg Stucki hat angekündigt, einen Memorialsantrag einzureichen, um elektronische Hilfsmittel an der Landsgemeinde zu ermöglichen.

Unmittelbar nach dem Gesetz über die politischen Rechte wird es sportlich: Die Landsgemeinde hat über einen finanziellen Beitrag des Kantons Glarus von bis zu 2.2 Millionen Franken an die Durchführung des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests 2025 in Mollis zu entscheiden. Zwar wird der Entscheid über den Austragungsort erst in vier Jahren fallen (im Rennen ist neben Mollis auch Winkeln im Kanton St. Gallen). Regierungs- und Landrat wollen aber schon jetzt das Signal aussenden, dass der Kanton die Kandidatur unterstützt. Sie sprechen von einem «Generationenprojekt, welches mit seiner Grösse und Ausstrahlung für Aufbruchsstimmung im Kanton sorgen wird». Der Landrat stimmte dem Memorialsantrag einstimmig zu.

Ebenfalls unbestritten war im Parlament eine Änderung des Steuergesetzes, welches als erstes Sachgeschäft (nach der Besetzung von vier Richterstellen) beraten wird. Das Gesetz soll dahingehend angepasst werden, dass Inhaber von Jungunternehmen bis zu zehn Jahre lang von einem reduzierten Ansatz bei der Vermögenssteuer profitieren können. Damit soll der Standort Glarus für Start-Ups attraktiver gemacht werden.

Weitere Traktanden betreffen die Bildungspolitik (Änderung des Einführungsgesetzes zum Bundesgesetz über die Berufsbildung) und die Justiz (Kantonalisierung der Schlichtungsbehörden).

Traditionsgemäss ist auch dieses Jahr ein Bundesrat an der Landsgemeinde zu Gast: erstmals kommt Verteidigungsminister Guy Parmelin zum Zug. Zu den weiteren Ehrengästen gehören der ganze Regierungsrat des Kantons Luzern sowie der Chef der Armee, Philippe Rebord. Die Leitung der Landsgemeinde hat auch dieses Jahr Rolf Widmer inne. Er wurde vergangenes Jahr zum Landammann gewählt, seine Amtszeit dauert bis 2018.

Die Landsgemeinde findet dieses Jahr am gleichen Tag wie der zweite Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen statt. Nach dem Mittagessen dürfte sich die Aufmerksamkeit somit auch im Glarnerland bald von der kantonalen Politik auf die internationale Politik verschieben. Hier wie dort hoffen wir auf spannende und hoffentlich friedliche demokratische Entscheide.

Veranstaltungshinweis
Am Vorabend der Landsgemeinde lädt das Lesecafé Bsinti in Braunwald zum «Landsgemeinde-Talk». Unter dem Titel «Macht direkte Demokratie glücklicher? Eine europäisch-glarnerische Diskussionsrunde» diskutieren Politikwissenschaftler und alt Nationalrat Andreas Gross, Nationalrat Martin Landolt sowie Europarechtlerin Christa Tobler. Mehr Informationen hier.